Jede Zeit baut auf den Erfahrungen anderer Zeiten auf. Das gilt auch für die Reformation, die nicht wie der Phönix aus der Asche aufgekommen ist. Es gab schon vor der Reformation Personen und Bewegungen, die in einzelnen ihrer Aussagen so etwas wie reformatorische Erkenntnisse vorweggenommen haben. Einige dieser sogenannten vorreformatorischen Bewegungen und Personen werden hier deshalb vorgestellt.

1. Die neue Frömmigkeit (Devotio moderna)

Im Oktober 1340 wurde in Deventer/Niederlande Geert Grote als Sohn eines reichen Kaufmanns geboren. Im Alter von gut 30 Jahren - er hatte lange und viel studiert und war seit kurzem Kanoniker (Mitglied im Domkapitel) in Aachen - erlebt er eine Bekehrung. Im Gefolge dieser Lebensänderung verfasst er einige "Beschlüsse und Absichten" für sein weiteres Leben, ohne dass er sie Gelübde nennt: Verzicht auf kirchliche Einkünfte, Minderung seines Besitzes; im Mittelpunkt steht das Heil seiner Seele. Er gibt den größten Teil seines Besitzes ab, wird Gast im Kloster, ohne selber Mönch zu werden, und liest viele geistliche Werke der Kirchengeschichte. Nach drei Jahren beginnt er zu predigen, zunächst in der Umgebung von Deventer, dann auch in anderen Teilen der Niederlande. Er predigt Buße, fordert zum Gebet und zum Fasten auf. Aber, und das betont er, es darf nicht nur eine äußerliche Übung sein, sondern muss aufrichtig geschehen: sonst ist es nichts nütze. Geert Grote wird von vielen verstanden. Einige beginnen, ein gemeinsames Leben außerhalb von Klostermauern zu führen. Dieses Modell macht Schule: Brüderhäuser und Schwesterhäuser "vom gemeinsamen Leben" entstehen in den Niederlanden. Auch wenn Geert Grote selber stets kirchentreu geblieben ist, so bekam er doch aufgrund seines großen Erfolgs ein Predigtverbot auferlegt; Grote zog sich zurück und starb 1384.

Zentrum für Grote ist die Suche nach dem inneren Frieden, der aus der Verleugnung des eigenen Ichs hervorgeht und durch "Innigkeit" und "Stille" zu erreichen ist. Das ist das "Herz" der neuen Frömmigkeit", der "Devotio moderna". Und diese Ideen haben weiter gewirkt. Einmal unter Laien in den "Schwestern" bzw. "Brüdern vom gemeinsamen Leben": Viele Häuser entstehen in den Niederlanden und in Deutschland. Aber daneben findet auch eine klösterliche Reformbewegung statt: Schüler Geert Grotes gründen ein Kloster in Windesheim bei Zwolle in den Niederlanden; viele weitere neue Klöster (z.B. in Frenswegen bei Nordhorn) entstehen; 100 Jahre nach dem ersten Kloster gibt es bereits 97 Klöster, die zur "Windesheimer Kongregation" gehören.
In diesen Klöstern geht es weniger um tiefe theologische Disputationen, sondern im Mittelpunkt steht die Erneuerung der Praxis des geistlichen Lebens. Und dabei ist das zentrale Anliegen, sich in das Leben Jesu zu versenken und das Leben Jesu nachzuahmen. Die wichtigste und äußerst einflussreiche Schrift, die dieses dokumentiert, ist die "Imitatio Christi", "Nachahmung Christi", die dem 1471 verstorbenen Thomas von Kempen zugeschrieben wird. Thomas von Kempen lebte zumeist abgeschieden im Kloster St. Agnetenberg bei Zwolle und schrieb im wesentlichen Bücher ab, verfasste aber auch einige. Die "Imitatio Christi" ist eins der meist verbreiteten Bücher der Welt; es gibt bis heute mehr als 3000 verschiedene Ausgaben.
Das Buch selber ist als "Tagebuch einer Seele auf dem Weg zur Vollkommenheit" (E. Iserloh) zu deuten: In vielen weisheitlichen Sätzen wird die Nachahmung Christi durch Weltentsagung und Hinwendung zu Christus erreicht: "Verschmähe, was äußerlich ist, gib dich dem Inneren hin, und du wirst sehen, das Reich Gottes wächst in dir." (II,1,1f.) Eine direkte Vorbereiterin der Reformation ist die "Devotio moderna" nicht geworden. Vielleicht hat Luther einige Vertreter gekannt, sicher ist das nicht. Aber die Reformation hat diese weit verbreitete Reformbewegung ebenso wie etwa auch den Humanismus in sich aufgenommen und umgeformt. In der Reformation wird der Protest gegen jede äußere Frömmigkeit noch viel grundsätzlicher und eben auch theologisch benannt. Aber es wird doch auch ein Boden für eine theologische Reform durch die Devotio moderna bereitet. Dass sich später so viele Geistliche haben von der reformatorischen Botschaft in Deutschland und den Niederlanden haben überzeugen lassen, macht die "Devotio moderna" zu einer vorreformatorischen Bewegung.

Thomas von Kempen, Nachfolge Christi (entstanden wohl zwischen 1414 und 1425)
Aus dem zweiten Buch, Kapitel 11:
Von der kleinen Zahl der Freunde des Kreuzes Jesu

Jesus hat jetzt viele, die sein himmlisches Reich lieben, aber wenige, die sein Kreuz tragen wollen. Er hat viele, die nach Trost, aber wenige, die nach Leid verlangen. Er findet viele Gäste an seinem Tisch, aber wenige, die mit ihm fasten. Alle wollen mit ihm fröhlich sein, wenige für ihn etwas leiden. Viele folgen Jesus bis zum Brechen des Brotes, wenige aber bis zum Trinken des Leidenskelches. Viele verehren seine Wunder, wenige folgen der Schmach des Kreuzes. Viele lieben Jesus, solange ihnen nichts Übles begegnet. Viele loben und preisen ihn, solange sie einige Tröstungen von ihm empfangen. Wenn Jesus sich aber verbirgt und sie nur ein wenig allein lässt, dann verfallen sie in Klagen oder große Mutlosigkeit. Die aber Jesus um seinetwillen und nicht um ihres eigenen Trostes willen lieben, die preisen ihn in jeder Not und Herzensangst ebenso wie in der Fülle des Trostes.

Aus dem zweiten Buch, Kapitel 12:
Vom königlichen Weg des heiligen Kreuzes

Trägst du das Kreuz gern, wird es dich tragen und zu dem ersehnten Ziel führen, dorthin, wo das Leid endet; freilich ist das nicht hier. Trägst du es unwillig, dann machst du dir eine Last und beschwerst dich selbst mehr, und dennoch musst du es tragen. Wirfst du ein Kreuz ab, wirst du ohne Zweifel ein anderes und vielleicht ein schwereres finden. Glaubst du dem zu entrinnen, dem noch kein Sterblicher entgehen konnte? Wer von den Heiligen ist in der Welt ohne Kreuz und Trübsal gewesen? Selbst Jesus Christus, unser Herr, war in seinem Leben nicht eine Stunde ohne den Schmerz des Leidens, solange er lebte. Christus, sagt er, musste leiden und von den Toten auferstehen und so in seine Herrlichkeit eingehen. Wie kannst du dir einen anderen Weg suchen als diesen königlichen Weg, den Weg des heiligen Kreuzes? Das ganze Leben Christi war Kreuz und Marter: und du suchst für dich Ruhe und Freude? Du irrst, du irrst, wenn du anderes suchst, als Leid zu erdulden: denn dieses ganze sterbliche Leben ist voller Not und ringsum mit Kreuzen bezeichnet. Und je höher einer im Geiste gestiegen ist, um so schwerere Kreuze findet er oft, weil die Pein seiner Verbannung durch die Liebe immer mehr wächst.

(entnommen aus: Thomas von Kempen, De imitatione Christi - Nachfolge Christi und vier andere Schriften. Lateinisch und deutsch, hg., eingeleitet und übersetzt von F. Eichler, München

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Fragen zur Weiterarbeit

1. Das Werk des Thomas heißt "De imitatio Christi", Nachfolge Christi. Was für ein Verständnis Christi ist erkennbar, dem nachzufolgen ist?

2.Wer gilt als rechter Nachfolger Christi?

3. Was versteht Thomas unter der Liebe zu Gott?

4. Im Mittelpunkt steht bei Thomas von Kempen die Leidensbereitschaft. Ist die Leidensübernahme in der Nachfolge Christi Voraussetzung, in die Herrlichkeit zu gelangen?