Nachdem in Lektion 1 einzelne Bewegungen und Personen behandelt wurden, die aus der Sicht der Reformation als ihre "Vorläufer" angesehen werden können, betreten wir jetzt mit der zweiten Lektion das Gebiet der Reformation selber. Bevor wir aber den ersten reformierten Reformator, Huldrych Zwingli, thematisieren, sind einige Hintergründe und Zusammenhänge kurz zu beleuchten.

1. Hintergründe und Voraussetzungen

Die politische Lage in Europa und die Situation in der Eidgenossenschaft

Nach dem Tod des Kaisers Maximilian I. wird der junge spanische König Karl von den Kurfürsten zum Kaiser gewählt. Und nicht der (auch von Rom unterstützte) französische König Franz I. Zwischen diesen beiden Monarchen kommt es in den darauf folgenden Jahrzehnten immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen, weil der neue Kaiser das alte Imperium wieder herstellen will. Zumeist unterliegt Frankreich. Weil zusätzlich im südöstlichen Europa die Türken weite Bereiche erobern, ist Kaiser Karl V. stark mit militärischen Aufgaben befasst, so dass er sich nur zu einem kleinen Teil mit der zunächst in Deutschland beginnenden Reformation beschäftigen kann. Das wiederum stärkt die Macht der deutschen Kurfürsten, die sich zum Teil als die eigentlichen Herren sehen, da sie ja den Kaiser gewählt haben. Die deutsche Reformation trägt denn auch in der Folge dieses "Fürstengesicht", weil die schwache Zentralmacht des Kaisers und die Stärke der jeweiligen Landesherren dazu führen, dass letztere in ihren Territorien eine bestimmte Konfession zur Landeskonfession erklären: in der alten römisch-katholischen Lehre bleibend oder die neue lutherische Reformation einführend. Die deutsche Reformation wird deshalb auch "Territorialreformation" genannt, weil in den jeweiligen Fürstentümern und Herrschaften unterschiedliche Bekenntnisse galten. Der Fachausdruck dafür heißt: cuius regio eius religio - wem die Region gehört, der bestimmt die Religion.
In der Eidgenossenschaft, die damals noch nicht generell Schweiz genannt wurde, ist die Lage ganz anders. Dort gibt es keine Fürsten, sondern selbstständige Städte (Orte genannt) mit der dazugehörenden Umgebung (Landschaft genannt), die für sich selber stehen und keine Herrschaft über sich akzeptieren. Die Regierungen in den Orten werden von denen, die das Bürgerrecht besitzen, gewählt. Die verschiedenen Orte haben sich zur Eidgenossenschaft verbunden, in der kein Ort die Vorherrschaft hat - die gemeinsamen Entschlüsse werden in einer Art Parlament (=Tagsatzung) gefasst, haben aber keine Bindungsgewalt für die einzelnen Orte. Jeder Ort entscheidet auch in religiösen Dingen für sich selber.

Die Situation der römisch-katholischen Kirche in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Die in Lektion 1 geschilderten vorreformatorischen Bewegungen haben durch ihr Vorhandensein schon auf eine seit längerer Zeit in der römisch-katholischen Kirche bestehende Krise hingewiesen. Und auch die Konzilien im 14. und 15. Jahrhundert haben trotz mancher Reformabsichten keine wirklichen Reformen durchsetzen können: Ämterkauf, mangelnde theologische Bildung und vor allem der Ablass sind dafür gravierende Zeichen. Die Kritik an der Kirche wächst, und vor allem die sittlichen Zustände im Klerus und in den Klöstern und das Finanzgebaren erregen Widerspruch. Daneben zeigt sich aber noch ein ganz anderes Gesicht: Die Volksfrömmigkeit und das religiöse Verlangen erreichen besonders in Deutschland ungeahnte Ausmaße. Das ist z.B. erkennbar an unzähligen Wallfahrten. Auch die Zahl der Messen steigt, so dass wesentlich mehr Priester gebraucht werden. Die römisch-katholische Kirche zeigt also nach außen hin ungebrochene Frömmigkeit, bei näherem Hinsehen ist aber doch eher ein Reformstau vorhanden. Man kann sagen, dass die Zeit reif für eine Reformation ist.

Die Reformation darf nicht mit Luther identifiziert werden

In Deutschland wird die Reformation direkt mit der Person Martin Luthers in Verbindung gebracht - und das ist ja auch richtig, weil mit ihm die Reformation in Deutschland begann. Seine am 31. Oktober 1517 an die Wittenberger Schlosskirchentür angeschlagenen 95 Thesen geben beredtes Zeugnis dafür ab. Luther ist der wohl wichtigste Reformator. Aber er war nicht der einzige, nicht in Deutschland und schon gar nicht außerhalb. Und deshalb wird man auf zwei Dinge acht zu geben haben: Einmal darf man die Reformation nicht mit Luther gleichsetzen; gerade die Reformierte Kirche bezieht sich ja auf Zwingli und Calvin, ohne dass sie Luthers Verdienste in Frage stellen könnte oder wollte. Und andererseits darf man Luther auch nicht als Maßstab nehmen dafür, was denn als "reformatorisch" gelten kann oder nicht: dann bekommt man zu schnell einen eingeengten Blick und kann nicht mehr die Erkenntnisse und Entdeckungen anderer Reformatoren wirklich würdigen.